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Vertretung in Deutschland
Presseartikel23. April 2023Vertretung in Deutschland

78. Jahrestag der Befreiung der Häftlinge des KZ Sachsenhausen: EU-Kommission in Deutschland gedenkt der Opfer

Gestern jährte sich Jahrestag der Befreiung der Häftlinge des KZ Sachsenhausen zum 78. Mal. An der heutigen zentralen Gedenkveranstaltung in der Gedenkstätte Sachsenhausen nahm Jörg Wojahn, Vertreter der Europäischen Kommission in Deutschland, teil.

Gedenken an die Befreiung des KZ Sachsenhausen
(c) Europäische Union

Beim Erinnern, beim Gedenken, gehe es darum, „die Vergangenheit zu analysieren, die Opfer zu würdigen – und alles dafür zu tun, das es künftig nie wieder solche Opfer geben wird“, sagte Jörg Wojahn.Die Europäische Union ist insofern tatsächlich ein Vergangenheitsprojekt. Sie ist die Essenz der Lehren, die wir aus unserer Vergangenheit in Europa gezogen haben. Aus den Kriegen, aus den Diktaturen, aus den Morden an Millionen von Menschen, auch hier im KZ Sachsenhausen.

Die Europäische Union ist aber vor allem ein Zukunftsprojekt. Wir machen dieses Europa gemeinsam, um uns eine gute Zukunft zu sichern.“

 

Der vollständige Wortlaut seiner Rede

(Es gilt das gesprochene Wort)

„Ein freies und vereintes Europa als Antwort auf den Totalitarismus – so hatten es sich die italienischen Vordenker der europäischen Einigung schon 1941 vorgestellt. Im Internierungslager auf der Gefangeneninsel Ventotene, auf die Mussolini sie verbannt hatte, rechneten sie in ihrem Manifest mit dem Faschismus ab. Zugleich aber beschrieben sie ihre europäische Vision für die Zeit nach dem Krieg.

Unter ihnen war Ursula Hirschmann, eine 1913 in Berlin geborene jüdische Deutsche, der es gelang, das Manifest herauszuschmuggeln. Sie selbst war im Sommer 1933 noch rechtzeitig aus Deutschland emigriert. Der jungen Berliner Antifaschistin blieb damit ein Schicksal erspart, dass so viele hier ereilte, und für die das Konzentrationslager Sachsenhausen ein wichtiger Gedenkort ist.

Unter den 200.000 Gefangenen von Sachsenhausen befanden sich viele Gegner des deutschen Naziregimes, aber auch Oppositionelle aus den Ländern, deren Regierungen mit Hitler kollaborierten. Hinzu kamen ausländische Zwangsarbeiter sowie alliierte Kriegsgefangene. 1944 waren rund 90 Prozent der Häftlinge Nicht-Deutsche. Menschen aus 40 Nationen – europäischen Nationen – wurden hier Opfer des deutschen Totalitarismus.

Ich traue mich daher zu sagen: Sachsenhausen ist ein europäischer Ort der Erinnerung und des Gedenkens.

Die Opfer verdienen Erinnerung. Wir gedenken ihrer am heutigen Tag.

Es ist mir, als Vertreter der Europäischen Union hier in Deutschland, eine besondere Ehre und eine Verpflichtung, hier zu stehen.

Denn nicht nur die Opfer verdienen unser Gedenken. Auch Europa selbst braucht die Erinnerung, immer aufs Neue. Denn die europäische Einigung basiert auf den Erfahrungen des Totalitarismus und der Gewaltherrschaft.

Wir haben deshalb zu Beginn dieses Jahres die Arbeit an einem gemeinsamen europäischen Gedenkort für den Holocaust aufgenommen. Dazu führen wir zunächst eine Diskussion in allen 27 EU-Staaten. Es ist ja die Essenz der EU-Zusammenarbeit, dass wir 27 verschiedene Sichtweisen zusammenbringen. Aber bei diesem Thema ist es besonders offensichtlich, dass die Perspektive in den Ländern der Täter – also in Deutschland und Österreich – zunächst eine völlig andere ist, als in Ländern, aus denen Millionen von Opfern stammen, vor allem natürlich Polen. Hinzu kommen Länder, die von diesen Verbrechen im Zuge des Zweiten Weltkriegs kaum betroffen waren, wie Spanien und Portugal.

Orte wie das KZ Sachsenhausen – mit seinen Gefangenen aus 40 Nationen – erinnern uns aber daran, dass in Europa alles mit allem immer eng zusammenhing und hängt. Wenn in einem Land eine menschenverachtende Regierung an die Macht kommt, kann schon sechs Jahre später ganz Europa brennen. Denn es liegt in der Natur solcher Systeme, sich nicht mit der Unterdrückung der eigenen Bürgerinnen und Bürger zufrieden zu geben.

Deswegen ist Gedenken das eine, das Handeln in der Gegenwart das andere. Wenn die europäische Einigung auf den Erfahrungen des Totalitarismus und der Gewaltherrschaft in Europa basiert, muss das auch praktische Konsequenzen für die Politik der EU haben. Vieles, was wir heute in der Europäischen Union gemeinsam zu erreichen – oder zu verhindern – suchen, folgt daher aus den Lehren, die wir aus dieser schrecklichen Zeit gezogen haben. Ich möchte Ihnen gleich einige Beispiele dafür nennen.

Die wichtigste Lehre ist, dass wir in der Wachsamkeit nicht nachlassen dürfen. Die Gefahr kann jederzeit zurückkehren – auch wenn wir uns jahrzehntelang in Sicherheit gewägt haben. Diese Lehre sollte seit dem 24. Februar letzten Jahres wieder allgegenwärtig sein.

Der russische Überfall auf die Ukraine führt uns zugleich etwas Anderes brutal vor Augen: Dass gewalttätige Regimes auch heute noch Sympathien gewinnen können. Wie viele Menschen in Deutschland zeigen Verständnis für die russischen Täter? Die einen aus ideologischen Gründen, die anderen vielleicht nur, weil sie der Desinformation der Aggressoren aufsitzen. Auch das – die Manipulation der Massen – ist ein klassisches Instrument der Totalitären.

Wenn wir als Europäische Union also versuchen Desinformation aufzudecken, wenn wir Internetplattformen verpflichten, gegen Hass im Netz vorzugehen, wenn wir gemeinsam Medienfreiheit und –Pluralismus sichern wollen – dann versuchen wir die Lehren aus unserer Vergangenheit zu ziehen.

Ich stehe hier im Konzentrationslager Sachsenhausen, und es macht es mir Angst, dass es in Deutschland Menschen gibt, die die Gräueltaten von Butscha und Irpin, die gezielten Bomben auf Wohnhäuser, die systematische Vergewaltigung von Frauen, die von Präsident Putin persönlich geförderte Verschleppung von Kindern verdrängen. Es macht mir Angst, denn es muss ja auch damals so ähnlich funktioniert haben, als die SS täglich tausende Insassen dieses Konzentrationslagers durch die Stadt Oranienburg trieb, zur Vernichtung durch Arbeit im Klinkerwerk.

Wenn wir also als Europäische Union ukrainische Vertriebene aufnehmen, wenn wir beim Wiederaufbau von zerbombten Schulen und Krankenhäusern helfen, und wenn wir die Menschen in der Ukraine mit Waffen unterstützen, um sich gegen den Vernichtungskrieg des Kreml zu verteidigen – dann versuchen wir die Lehren aus unserer Vergangenheit zu ziehen.

„Der Schoß ist fruchtbar noch“, warnte Bertolt Brecht. Um das zu sehen, müssen wir nicht einmal auf die Ereignisse 1000 Kilometer weiter im Osten schauen. Es genügt schon der Blick in die Statistiken in Deutschland: die steigende Zahl der anti-semitischen Vorkommnisse macht Angst. Nach sieben Jahrzehnten „Nie wieder“ begehen Menschen in Deutschland solche Taten. Dabei gibt es hierzulande eine wirklich intensive Beschäftigung mit der Vergangenheit. Es gibt sie auch anderswo in der EU; auch Länder wie Spanien und Portugal gehen heute bis ins 16. Jahrhundert zurück, um Anti-Semitismus aufzuarbeiten. Aber trotz allem sehen wir die Gefahr des Rückschritts an zu vielen Stellen.

Wenn wir in Brüssel also eine europäische Strategie gegen den Anti-Semitismus vorlegen, wenn wir in Europa Sozialprojekte für Sinti und Roma finanzieren, wenn wir Staaten und Regionen daran hindern, queere Menschen zu diskriminieren, wenn wir alles versuchen, um Ausgrenzung und Entmenschlichung zu bekämpfen – dann versuchen wir die Lehren aus unserer Vergangenheit zu ziehen.

Die Grundlage unserer Europäischen Union ist der liberale demokratische Rechtsstaat, der Mehrheiten verlangt und zugleich Minderheiten schützt, bei dem die Würde des Individuums im Mittelpunkt steht – nicht irgendein Kollektiv oder das gesunde Volksempfinden. Von so einem Europa haben die Internierten von Ventotene geträumt, und so eine Gesellschaft hatten auch viele der politischen Gefangenen im Konzentrationslager Sachsenhausen vor Augen. Doch wir sehen auch innerhalb der Europäischen Union heute Regierungen, die diese Prinzipien missachten oder gar verachten.

Wenn wir also als Europäische Union versuchen, Demokratie und Rechtsstaat vor autoritären Entwicklungen zu schützen, wenn wir wegen der Entmündigung der Justiz Strafzahlungen verhängen, wenn wir für andere Verletzungen der Rechtstaatlichkeit Milliarden von Euro an Förderungen zurückhalten, wenn wir Wahlen gegen Beeinflussung sichern wollen, wenn wir Journalistinnen und Journalisten gegen Einschüchterung schützen wollen – dann versuchen wir die Lehren aus unserer Vergangenheit zu ziehen.

Meine Damen und Herren, denn darum geht es beim Erinnern, darum geht es beim Gedenken: Die Vergangenheit zu analysieren, die Opfer zu würdigen – und alles dafür zu tun, das es künftig nie wieder solche Opfer geben wird. Die Europäische Union ist insofern tatsächlich ein Vergangenheitsprojekt. Sie ist die Essenz der Lehren, die wir aus unserer Vergangenheit in Europa gezogen haben. Aus den Kriegen, aus den Diktaturen, aus den Morden an Millionen von Menschen, auch hier im KZ Sachsenhausen.

Die Europäische Union ist aber vor allem ein Zukunftsprojekt. Wir machen dieses Europa gemeinsam, um uns eine gute Zukunft zu sichern.

Vive l'Europe, long live Europe, es lebe Europa!”

Weitere Informationen:

Das Programm der Gedenkveranstaltung

Pressekontakt: Birgit Schmeitzner, Tel.: +49 (30) 2280-2300 Mehr Informationen zu allen Pressekontakten hier.

Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern beantwortet das Team des Besucherzentrums ERLEBNIS EUROPA per E-Mail oder telefonisch unter (030) 2280 2900.

 

Einzelheiten

Datum der Veröffentlichung
23. April 2023
Autor
Vertretung in Deutschland