Nach dem Gesetz können derzeit amtierende Richter, die von der Herabsetzung des Pensionsalters betroffen sind, beim Präsidenten der Republik bis zu zwei Mal eine Verlängerung ihrer Amtszeit um drei Jahre beantragen. Nach welchen Kriterien der Präsident entscheidet, bleibt jedoch offen, und ablehnende Bescheide können nicht gerichtlich angefochten werden. Die Einführung einer Konsultation des Landesrats für Gerichtswesen hält die Kommission – im Gegensatz zu den polnischen Behörden – nicht für einen wirksamen Schutz. Die Stellungnahme des Landesrats für Gerichtswesen ist nicht bindend und beruht auf unklaren Kriterien. Darüber hinaus setzt sich der Landesrat für Gerichtswesen nach der Reform vom 8. Dezember 2017 nunmehr aus richterlichen Mitgliedern zusammen, die vom polnischen Parlament ernannt werden, was den europäischen Standards für die Unabhängigkeit der Justiz zuwiderläuft.
Die Kommission hat die Antwort der polnischen Behörden auf ihr Aufforderungsschreiben vom 2. Juli 2018 zum Gesetz über das Oberste Gericht eingehend analysiert. Die rechtlichen Bedenken der Kommission werden durch die Antwort der polnischen Behörden nicht ausgeräumt.
Die Europäische Kommission hält daran fest, dass das polnische Gesetz über das Oberste Gericht gegen EU-Recht verstößt, da es den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit und insbesondere auch der Unabsetzbarkeit von Richtern untergräbt. Sie vertritt daher nach wie vor die Auffassung, dass Polen seinen Verpflichtungen nach Artikel 19 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union in Verbindung mit Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union nicht nachkommt.
Die Kommission hat deshalb die nächste Stufe des Vertragsverletzungsverfahrens eingeleitet. Die polnischen Behörden haben nun einen Monat Zeit, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um dieser mit Gründen versehenen Stellungnahme nachzukommen. Ergreifen die polnischen Behörden keine angemessenen Maßnahmen, kann die Kommission den Europäischen Gerichtshof anrufen.
Hintergrund
Die Rechtsstaatlichkeit ist einer der gemeinsamen Werte, auf die sich die Europäische Union gründet. Sie ist in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union verankert. Nach den Verträgen ist die Europäische Kommission zusammen mit dem Europäischen Parlament und dem Rat dafür zuständig, die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit als eines Grundwerts der Union zu garantieren und für die Achtung des Rechts, der Werte und der Grundsätze der EU zu sorgen.
Die Ereignisse in Polen haben die Europäische Kommission veranlasst, im Januar 2016 auf der Grundlage des Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips einen Dialog mit der polnischen Regierung aufzunehmen. Das Verfahren basiert auf einem kontinuierlichen Dialog zwischen der Kommission und dem betreffenden Mitgliedstaat. Die Kommission informiert das Europäische Parlament und den Rat in regelmäßigen Abständen.
Am 29. Juli 2017 leitete die Kommission wegen des Gesetzes über die ordentlichen Gerichte, insbesondere auch wegen der vorgesehenen Pensionierungen und ihrer Auswirkungen auf die Unabhängigkeit der Justiz, ein Vertragsverletzungsverfahren ein. Am 20. Dezember 2017 erhob die Kommission in dieser Sache Klage vor dem Gerichtshof, der sich nun mit der Angelegenheit befasst.
Da auf Basis des Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips keine ausreichenden Fortschritte erzielt wurden, wandte die Kommission am 20. Dezember 2017 erstmals das Verfahren nach Artikel 7 Absatz 1 an und legte einen begründeten Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Feststellung der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch Polen vor. Artikel 7 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union sieht vor, dass der Rat mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder feststellen kann, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 des Vertrags genannten gemeinsamen Werte durch einen Mitgliedstaat besteht.
Im Zuge der Anhörung zur Rechtsstaatlichkeit in Polen, die auf der Tagung des Rates „Allgemeine Angelegenheiten“ vom 26. Juni 2018 im Zusammenhang mit dem Verfahren nach Artikel 7 Absatz 1 stattfand, machten die polnischen Behörden keine Angaben zu geplanten Maßnahmen, mit denen den noch offenen Bedenken der Kommission Rechnung getragen werden soll. Angesichts dessen und der mangelnden Fortschritte in dieser Frage beim Rechtsstaatlichkeitsdialog mit Polen beschloss das Kollegium der Kommissionsmitglieder am 27. Juni 2018, den Ersten Vizepräsidenten Frans Timmermans im Einvernehmen mit Präsident Juncker zur Einleitung dieses Vertragsverletzungsverfahren zu ermächtigen. Am 2. Juli 2018 beschloss die Kommission, die rechtlichen Bedenken der Kommission mit einem Aufforderungsschreiben unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen. Die polnischen Behörden beantworteten das Aufforderungsschreiben am 2. August 2018.
Mit diesem Verstoß wird der Rechtsstaatlichkeitsdialog mit Polen nicht abgebrochen, denn aus Sicht der Kommission wäre es nach wie vor vorzuziehen, wenn das Problem einer systemischen Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in Polen auf diesem Wege gelöst werden könnte.
Weitere Informationen
Zu Vertragsverletzungsverfahren allgemein siehe MEMO/12/12
Pressemitteilung zum Aufforderungsschreiben zum Gesetz über das Oberste Gericht
Pressekontakt: reinhard [dot] hoenighausec [dot] europa [dot] eu (Reinhard Hönighaus), Tel.: +49 (30) 2280-2300
Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern beantwortet das Team des Besucherzentrums ERLEBNIS EUROPA per frageerlebnis-europa [dot] eu (E-Mail ) oder telefonisch unter (030) 2280 2900.
Einzelheiten
- Datum der Veröffentlichung
- 14. August 2018
- Autor
- Vertretung in Deutschland