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Vertretung in Deutschland
Presseartikel30. September 2020Vertretung in DeutschlandLesedauer: 9 Min

Kommission legt ersten Bericht über die Lage der Rechtsstaatlichkeit in allen EU-Staaten vor

Die Europäische Kommission hat heute (Mittwoch) ihren ersten EU-weiten Bericht über die Situation der Rechtsstaatlichkeit in den einzelnen Mitgliedstaaten veröffentlicht. Untersucht wurden die nationalen Justizsysteme, Korruptionsbekämpfung...

Kommissionsvizepräsidentin Věra Jourová, zuständig für Werte und Transparenz erklärte: „Heute schließen wir eine bedeutende Lücke in unserem Instrumentarium zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit. Mit dem neuen Bericht werden erstmals alle Mitgliedstaaten gleichermaßen beleuchtet. So können wir Entwicklungen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit ermitteln und zur Vorbeugung der Entstehung ernsthafter Probleme beitragen. Jede Bürgerin und jeder Bürger hat Anspruch auf Zugang zu unabhängigen Gerichten sowie zu freien und pluralistischen Medien und muss darauf vertrauen können, dass ihre bzw. seine Grundrechte gewahrt werden. Nur dann können wir uns mit Fug und Recht als Union der Demokratien bezeichnen.“

EU-Justizkommissar Didier Reynders ergänzte: „Der neue Bericht über die Rechtsstaatlichkeit läutet den Beginn eines offenen und regelmäßigen Dialogs mit den einzelnen Mitgliedstaaten ein, in dem wir bewährte Verfahren austauschen und Herausforderungen antizipieren können, bevor sie sich zu Problemen auswachsen. Wir wollen eine echte Kultur der Rechtsstaatlichkeit in der gesamten Europäischen Union schaffen und eine echte Debatte auf Ebene der Mitgliedstaaten sowie der EU anstoßen.“

Wichtigste Erkenntnisse zur aktuellen Lage der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten

1. Justizsystem

Eine Reihe von Mitgliedstaaten, darunter Malta, Lettland, die Tschechische Republik, Schweden und Zypern, führt Reformen durch, um die Unabhängigkeit der Justiz zu stärken und den Einfluss der Exekutive und/oder der Legislative auf die Justiz zu verringern. Darunter sind auch Mitgliedstaaten, in denen die Unabhängigkeit der Justiz traditionell als hoch oder sogar sehr hoch angesehen wird.

Das Recht der Exekutive, der Staatsanwaltschaft formelle Anweisungen zu erteilen, auch in einzelnen Fällen, ist in manchen Mitgliedstaaten wie Deutschland und Österreich, ein besonderes Diskussionsthema, insbesondere nach der Rechtsprechung des Europäischer Gerichtshofs zum Europäischen Haftbefehl. In Polen ist die Doppelfunktion des Justizministers, der gleichzeitig Generalstaatsanwalt ist, besonders bedenklich, da dadurch die Anfälligkeit für eine politische Einflussnahme hinsichtlich der Organisation der Staatsanwaltschaft und der Untersuchung von Fällen zunimmt.

Aus den Bewertungen zu den einzelnen Mitgliedstaaten geht hervor, dass die Unabhängigkeit der Justiz in einigen Ländern nach wie vor Anlass zu Bedenken gibt, aufgrund deren in einigen Fällen Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet wurden. Verfahren nach Artikel 7 Absatz 1 laufen gegen Ungarn und Polen wegen der Auswirkungen von Reformen auf die Unabhängigkeit der Justiz. In Bulgarien gaben die Zusammensetzung und die Funktionsweise des obersten Justizrates und die Inspektion des obersten Justizrates Anlass zu Bedenken. In Rumänien finden die in den Jahren 2017-2019 beschlossenen umstrittenen Reformen, die mit negativen Auswirkungen auf die Unabhängigkeit der Justiz einhergehen, weiterhin Anwendung. In Kroatien führt die geringe Verwaltungskapazität des staatlichen Justizrates und des Staatsanwaltsrats bei der Erfüllung ihrer Aufgabe zu Schwierigkeiten, in der Slowakei bestehen seit Langem Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit und Integrität des Justizsystems.

Auch die Umstellung der Justizsysteme auf das digitale Zeitalter stellt eine EU-weite Herausforderung dar, wobei die derzeitige Pandemie die Notwendigkeit erhöht hat, die dafür erforderlichen digitalen Reformmaßnahmen voranzutreiben.

2. Rahmen für die Korruptionsbekämpfung

Einige Mitgliedstaaten, darunter Bulgarien, Kroatien, Frankreich und Rumänien, haben bereits umfassende Antikorruptionsstrategien verabschiedet und andere bereiten solche Strategien gerade vor. Um in diesem Bereich wirksame Fortschritte zu erzielen, kommt es jedoch vor allem auf eine wirksame Umsetzung und Überwachung an. Außerdem haben viele Mitgliedstaaten Maßnahmen zur Stärkung ihres Rahmens für Korruptionsvorbeugung und Integrität ergriffen bzw. beabsichtigen, dies zu tun. Andere wiederum haben Maßnahmen getroffen, um die Kapazitäten ihres Strafjustizsystems zur Korruptionsbekämpfung auszubauen.

Die Wirksamkeit der Ermittlungsverfahren, der Strafverfolgung und der Verurteilung in Korruptionsfällen gibt allerdings, unter anderem auch bei hochrangigen Korruptionsfällen, in mehreren Mitgliedstaaten Anlass zu Bedenken, darunter in Bulgarien, Malta, Kroatien, der der Slowakei, der Tschechischen Republik und Ungarn.

3. Medienfreiheit und -pluralismus

Die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union profitieren in Bezug auf die Freiheit und den Pluralismus der Medien im Großen und Ganzen von hohen Standards. Insbesondere während der Coronavirus-Pandemie haben die Medien einen wesentlichen Beitrag zur Bekämpfung von Desinformation geleistet. Dem Bericht zufolge gibt es jedoch bei einigen Mitgliedstaaten Bedenken in Bezug auf die Wirksamkeit und eine angemessene Ressourcenausstattung der Medien sowie auf Risiken einer Politisierung der Medienbehörden, beispielsweise in Ungarn, Malta und Polen. Des Weiteren bestehen beispielsweise in Bulgarien, Griechenland, Luxemburg, Rumänien und Slowenien Bedenken hinsichtlich der Wirksamkeit mancher nationalen Medienaufsichtsbehörden aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel.

In den Bewertungen einiger Mitgliedstaaten wurden zudem Fälle aufgezeigt, in denen ernsthafte Bedenken hinsichtlich einer politischen Einflussnahme auf die Medien bestehen. Beispielsweise wurden in Ungarn angesichts des Fehlens von Rechtsvorschriften und Transparenz bei der Verteilung staatlicher Werbung erhebliche Mittel für staatliche Werbung regierungsfreundlichen Unternehmen zugewiesen, wodurch der Regierung die Tür geöffnet wurde, um indirekten politischen Einfluss auf die Medien auszuüben. In Österreich werden relativ hohe Beträge für staatliche Werbung an Medienunternehmen vergeben, und da es keine Regeln für ihre faire Verteilung gibt, sind Bedenken hinsichtlich eines potenziellen politischen Einflusses auf diese Verteilung entstanden. Bedenken wegen der politischen Einflussnahme von Medien bestehen auch in Bulgarien, Malta und Polen.

Und schließlich sind Journalisten und andere Medienakteure im Zusammenhang mit ihrer Arbeit in einer Reihe von Mitgliedstaaten Drohungen oder gar Angriffen ausgesetzt, Beispiele werden in den Länderkapiteln über Bulgarien, Kroatien, Slowenien, Spanien und Ungarn hervorgehoben.

4. Institutionelle Gewaltenteilung

Institutionelle Gewaltenteilung bildet den Kern der Rechtsstaatlichkeit: Sie sorgt dafür, dass die Ausübung hoheitlicher Rechte durch staatliche Stellen einer demokratischen Kontrolle unterliegt. In einer Reihe von Mitgliedstaaten sind Verfassungsreformen eingeleitet worden, die darauf abzielen, die institutionelle Gewaltenteilung zu stärken. Viele Mitgliedstaaten haben systematische Verfahren zur Einbeziehung von Interessenträgern eingeführt, durch die sichergestellt wird, dass Strukturreformen auf der Grundlage eines breiten gesellschaftlichen Dialogs durchgeführt werden. Gleichzeitig geht aus dem Bericht jedoch hervor, dass ein übermäßiger Rückgriff auf beschleunigte Gesetzgebungsverfahren bzw. Notstandsgesetze Anlass zu Bedenken hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit geben kann. So wurde in Polen im Zeitraum 2015-2019 das beschleunigte Verfahren zur Annahme von Vorschriften durch das Parlament umfassend für die Annahme wichtiger Strukturreformen der Justiz eingesetzt, durch die der politische Einfluss auf die Justiz gewachsen ist In Rumänien sorgte die häufige Verwendung von Notverordnungen der Regierung in Schlüsselbereichen, unter anderem für Justizreformen, für Bedenken hinsichtlich der Qualität der Rechtsvorschriften, Rechtssicherheit und der Achtung der Gewaltenteilung.

In der gesamten EU ist die Zivilgesellschaft nach wie vor ein wichtiger Akteur zur Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit, und in den meisten Mitgliedstaaten gibt es ein förderliches und unterstützendes Umfeld für die Zivilgesellschaft. In einigen Fällen ist die Zivilgesellschaft jedoch in bestimmten Mitgliedstaaten aufgrund von Rechtsvorschriften, die den Zugang zu ausländischen Finanzquellen einschränken, oder wegen Hetzkampagnen mit ernsthaften Herausforderungen konfrontiert. In Bulgarien werden beispielsweise neue Gesetzentwürfe zur Transparenz ausländischer Finanzmittel für NRO aufgrund ihrer möglichen negativen Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft kritisiert. Der Gerichtshof der Europäischen Union stellte im Juni 2020 fest, dass in Ungarn ein Gesetz von 2017 über die Transparenz von mit ausländischen Mitteln finanzierten Organisationen der Zivilgesellschaft unvereinbar mit dem freien Kapitalverkehr und dem Recht auf Vereinigungsfreiheit ist. In Polen richten sich ungünstige Erklärungen von Vertretern öffentlicher Stellen gegen NRO, wodurch der zivilgesellschaftliche Raum beeinträchtigt wird. Auf LGBTI+-Gruppen ausgerichtete Maßnahmen der Regierung, die auch die Festnahme und Haft einiger Vertreter der Gruppen einschließt, sowie Hetzkampagnen gegen diese Gruppen haben die Befürchtungen verstärkt.

Coronavirus-bedingte Notmaßnahmen

Angesichts der anhaltenden Pandemie sind in einer Reihe von Mitgliedstaaten nach wie vor Notstandsregelungen und Krisenmaßnahmen in Kraft. In dem Bericht wird auf einige Probleme eingegangen, die im Rahmen der nationalen Debatten sowie der rechtlichen und politischen Reaktionen auf die Krise aufgetreten sind. So kann eine Änderung oder Aussetzung der üblichen einzelstaatlichen Gewaltenteilungsprozesse in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit besonders problematisch sein. Gleichzeitig werden aber auch mehrere Beispiele für Fälle angeführt, in denen Entscheidungen einzelstaatlicher Gerichte oder die Beteiligung von Ombudspersonen positive Auswirkungen auf Krisenmaßnahmen hatten. Die Kommission wird die Maßnahmen weiter beobachten, bis sie ausgelaufen sind.

Nächste Schritte

Der Bericht über die Rechtsstaatlichkeit wird in die breitere Debatte über das Thema Rechtsstaatlichkeit auf europäischer und einzelstaatlicher Ebene einfließen. Die Kommission sieht dem Austausch mit dem Europäischen Parlament und dem Rat zu Fragen der Rechtsstaatlichkeit erwartungsvoll entgegen und ist der Ansicht, dass der vorliegende Bericht eine solide Grundlage für weitere interinstitutionelle Arbeiten bietet.

Die Kommission ersucht zudem die nationalen Parlamente und nationalen Behörden, den vorliegenden Bericht einschließlich der Länderkapitel zu erörtern und sich, gestützt auf die europäische Solidarität sowie als Ermutigung zur Durchführung von Reformen, gegenseitig zu unterstützen. Darüber hinaus sollten weitere einschlägige Akteure auf einzelstaatlicher Ebene und auf EU-Ebene einbezogen werden.

Abhängig vom Ergebnis des Dialogs im Zusammenhang mit dem Bericht des Jahres 2020 und gestützt auf die im ersten Jahr des Rechtsstaatlichkeitsmechanismus gewonnenen Erfahrungen, wird die Kommission mit der Ausarbeitung des Berichts 2021 beginnen und dabei die Impulse zur Stärkung der Resilienz des Rechtsstaatlichkeitsprinzips in unseren Demokratien weiter vorantreiben.

Hintergrund

Der erste Jahresbericht über die Rechtsstaatlichkeit ist eine der wichtigsten Initiativen des Arbeitsprogramms der Kommission für 2020 und Teil des umfassenden europäischen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus, der in den politischen Leitlinien von Präsidentin von der Leyen angekündigt wurde. Er beruht auf einem intensiven Dialog mit den nationalen Behörden und Interessenträgern und beleuchtet alle Mitgliedstaaten objektiv und unparteiisch. Die von der Kommission vorgenommene qualitative Bewertung bezieht sich insbesondere auf die wichtigsten Entwicklungen seit Januar 2019 und beruht auf einem kohärenten Ansatz: Alle Mitgliedstaaten werden anhand derselben Methodik bewertet, wobei den jeweiligen Entwicklungen angemessen Rechnung getragen wird.

Der Bericht ist Teil des neuen jährlichen Rechtsstaatlichkeitszyklus, d. h. des Rechtsstaatlichkeitsmechanismus. Dieser Mechanismus sieht einen jährlichen Zyklus zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit und zur Vorbeugung der Entstehung bzw. Verschärfung von Problemen vor. Ziel ist es, das Verständnis und die Sensibilisierung für Fragen und wichtige Entwicklungen zu verbessern, Herausforderungen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit zu ermitteln und die Mitgliedstaaten unter Mitwirkung der Kommission und der anderen Mitgliedstaaten sowie der Interessenträger, einschließlich der Venedig-Kommission, bei der Suche nach Lösungen zu unterstützen.

Der Mechanismus dient insbesondere der Prävention. Er steht gesondert von den übrigen Bestandteilen des EU-Instrumentariums zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit und ersetzt nicht die im Vertrag verankerten Mechanismen, mit denen die EU auf schwerwiegendere rechtsstaatliche Probleme in den Mitgliedstaaten reagieren kann. Zu diesen Instrumenten gehören Vertragsverletzungsverfahren und das Verfahren zum Schutz der Grundwerte der Union nach Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union. Der Mechanismus ist zudem von der vorgeschlagenen Konditionalitätsregelung zu unterscheiden, die den EU-Haushalt in Situationen schützen soll, in denen die finanziellen Interessen der Union aufgrund genereller Mängel in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip in einem Mitgliedstaat gefährdet sein könnten.

Weitere Informationen:

Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2020 – Die Lage der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union

Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2020 – Länderkapitel

Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2020 – Factsheet

Das Instrumentarium der EU zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit – Factsheet

Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2020 – Fragen und Antworten

Website zum Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2020

Pressekontakt: katrin [dot] ABELEatec [dot] europa [dot] eu ( Katrin Abele), Tel.: +49 (30) 2280-2140

Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern beantwortet das Team des Besucherzentrums ERLEBNIS EUROPA per frageaterlebnis-europa [dot] eu (E-Mail) oder telefonisch unter (030) 2280 2900.

Einzelheiten

Datum der Veröffentlichung
30. September 2020
Autor
Vertretung in Deutschland