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Vertretung in Deutschland
  • Presseartikel
  • 9. Juni 2016
  • Vertretung in Deutschland
  • Lesedauer: 5 Min

Was die EU jetzt tun muss: Vizepräsidentin Georgieva über die Zukunft Europas

Ist der europäische Traum nur noch das: Ein Traum? Kristalina Georgieva, Vizepräsidentin der EU-Kommission, gab heute (Donnerstag) in Berlin ihre Bewertung der grundsätzlichen Krisen ab, mit denen die Europäische Union derzeit kämpfen muss – und...

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(09.06.2016) – Die aus Bulgarin stammende Vizepräsidentin sieht die Europäische Union in einer historisch schwierigen Situation. Georgieva erinnerte daran, wie sie 2007 am Frankfurter Flughafen erstmals als EU-Bürgerin einreiste und den Durchgang mit dem Schild „Nur für EU-Bürger“ nutzen konnte. „Teil des vereinigten Europas zu sein war der große Traum meiner Generation, und ich bin erschüttert, dass dieser Erfolg nun in Gefahr ist“, sagte Georgieva vor etwa 180 Gästen bei einer gemeinsamen Veranstaltung der Europäischen Bewegung Deutschland und der Vertretung der EU-Kommission im Europäischen Haus in Berlin.

Europa stehe jetzt vor einer historischen Wegmarke: „Wir sind mit Zerwürfnissen innerhalb der EU konfrontiert, die durch eine Vielzahl an Krisen ausgelöst wurden: Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Terrorismus-Krise. Das hat unser Vertrauen erschüttert“, sagte Georgieva. Hinzu komme, dass Großbritannien uneins sei, ob es überhaupt in der EU verbleiben wolle. Die Welt verändere sich rasend schnell. Die Menschen in Europa, aber auch die Institutionen und Regierungen in der EU hätten Probleme, damit umzugehen.

Nicht vergessen, wie viel erreicht wurde

Wie kann Europa wieder zu alter Stärke zurückfinden? Zunächst, so Georgieva, dürfe Europa nicht vergessen, wie viel erreicht worden sei. Die EU sei der größte Wirtschaftsraum der Welt, China und die USA können sich noch auf Jahre um den zweiten Platz streiten. Die Europäische Union habe es geschafft, wirtschaftliche Ungleichheit innerhalb des Kontinents deutlich abzumildern. Und Europa unterstütze trotz der Krise wie kein anderer Kontinent den Rest der Welt mit Entwicklungs- und Katastrophenhilfe – anders als viele dies vorhergesagt hätten.

Europa brauche aber Antworten auf die drängendsten Schwierigkeiten. „1,8 Millionen Flüchtlinge sind innerhalb kurzer Zeit nach Europa gekommen. Das wäre überall auf der Welt ein Schock.“ Darauf müsse Europa geschlossener reagieren. „Wir müssen unsere Außengrenzen schützen, wir müssen wissen, wer nach Europa kommt. Dabei waren wir bislang zu nachlässig.“ Eine Harmonisierung der europäischen Asylgesetze sei überfällig. Schleusern müsse das Handwerk gelegt werden – hierzu sei die gerade in Deutschland kontrovers diskutierte Vereinbarung mit der Türkei ein wichtiger Schritt. Es brauche mehr legale Wege für Migration nach Europa, etwa den Zugang über eine gemeinsame Blue Card. Und schließlich werde Europa Menschen großzügiger in ihrer Heimat helfen. „Eine Familie im Libanon zu unterstützen kostet zehn bis zwölf Mal weniger als wenn sie nach Deutschland kommt.“

Wirtschaftliche Schwäche überwinden

Zudem, so Georgieva, müsse Europa seine wirtschaftliche Schwäche überwinden. Nur eine stärkere, konkurrenzfähigere Wirtschaft mache es möglich, die Vielzahl an Problemen zu lösen. Zwar seien die Wachstumsaussichten für 2016 ein Lichtblick, die Arbeitslosigkeit geht langsam zurück und die Exporte haben das Vorkrisen-Niveau überschritten. „Aber der Rest der Welt ist gleichzeitig wettbewerbsfähiger geworden, wir stehen in Konkurrenz zu Giganten“, sagte sie.

Deshalb müsse die EU auf drei Gaspedale gleichzeitig drücken. Erstens brauche es neben Haushaltskonsolidierung und Strukturreformen zusätzliche Zukunftsinvestitionen. Dabei helfe die von der Juncker-Kommission im Vorjahr ins Leben gerufene Investitionsoffensive, die bereits Investitionen von bis zu 100 Mrd. Euro ausgelöst hat – etwa ein Drittel des Ziels von 315 Mio. Euro über drei Jahre. Zweitens müsse der Binnenmarkt weiter gestärkt und vertieft werden. Projekte wie die Energieunion und der digitale Binnenmarkt seien deshalb enorm wichtig. Drittens brauche die EU auch internationale Handelsvereinbarungen, um das Wachstum zu fördern.

Hat die EU überhaupt noch eine Zukunft? Immer häufiger wird selbst diese grundsätzliche Frage gestellt, sagte Georgieva. Man habe inzwischen gelernt, dass es eine Illusion gewesen sei, dass Europa zwangsläufig immer weiter expandieren und gleichzeitig die Integrationstiefe vorantreiben könne. Sie zeigte sich aber gleichzeitig überzeugt, dass die EU erfolgreich bleiben werde. „Die Alarmglocken zu läuten ist richtig, weil wir nicht nachlässig werden sollten. Aber die EU wird es auch in zehn Jahren und weit darüber hinaus noch geben. Wir können es uns schlichtweg nicht leisten, die EU aufzugeben.“

Äußerer Druck kann Europa zusammenschweißen

Ein großes Problem in der Wahrnehmung der EU sei, dass politische Erfolge von der nationalen Politik als nationale Errungenschaften gepriesen werden, während Misserfolge auf „Brüssel“ geschoben werden. Doch die Krisen und die Konkurrenzkräfte außerhalb Europas können die EU-Mitglieder auch zusammenschweißen. In Asien und Afrika werde ständig die Frage gestellt, wie man einen erfolgreichen Staatenverbund wie die EU schaffen könne, „während wir in unsere eigene Union schlechtreden“. Aus der Vogelperspektive betrachtet sei die Situation deutlich weniger düster.

Georgieva sagte, für ihre Generation sei nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und der Teilung Europas vor allem der gemeinsame Frieden die größte Errungenschaft gewesen. Junge Menschen schätzten dagegen zum Beispiel die Reisefreiheit. „ Aber in allen Generationen tritt nun etwas sehr Besorgnis erregendes zutage: Tiefe Verängstigung.“ Diese werde durch die enorm schnellen Veränderungen hervorgerufen. „Sogar junge Menschen haben Probleme, sich ständig neu anzupassen und in Unsicherheit über die Zukunft zu leben.“ Darauf gebe es keine einfachen Antworten. Auf der einen Seite sehnten sich die Menschen nach einer großen Gemeinschaft, wie sie auch die EU bieten könne. Auf der anderen Seite sei es schwer, diesen Wunsch in eine echte europäische Identität umzuwandeln. Die Vielfalt an Sprachen in Europa stehe dem zum Beispiel im Wege, die auf der anderen Seite aber auch kulturellen Reichtum bedeute.

Ost und West müssen einander mehr zuhören

Als Bulgarin ging Georgieva besonders auf den Riss ein, den viele Beobachter zwischen den ost- und den westeuropäischen EU-Mitgliedsländern auszumachen glauben. Sie warb auf beiden Seiten um mehr Verständnis. Der Westen müsse anerkennen, dass Osteuropa ein Reservoir für den wirtschaftlichen Erfolg der restlichen Mitgliedsstaaten gewesen sei. „Finanzielle Hilfe für Osteuropa war keine milde Gabe, sondern hat auch den Unternehmen in Westeuropa neue Chancen verschafft.“ Die Kohäsionspolitik der EU, durch die wirtschaftlich schwächere Mitgliedsstaaten höhere Zahlungen aus dem EU-Haushalt erhalten, sei zu einem gewissen Teil der Preis, der für die Öffnung noch nicht so reifer Märkte bezahlt werden müsse.

Auf der anderen Seite müssten die Osteuropäer auch verstehen, dass es keine „Teilzeit-Mitgliedschaft“ in der Europäischen Union geben könne und dieser Eindruck im Westen entstanden sei. Die Europäische Union sei nicht „à la carte“ zu haben.

Pressekontakt: reinhard [dot] hoenighausatec [dot] europa [dot] eu (Reinhard Hönighaus), Tel.: +49 (30) 2280-2300

Anfragen von Bürgerinnen und Bürgern beantwortet das Team des Besucherzentrums ERLEBNIS EUROPA per frageaterlebnis-europa [dot] eu (E-Mail) oder telefonisch unter (030) 2280 2900.

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Datum der Veröffentlichung
9. Juni 2016
Autor
Vertretung in Deutschland