In einer Grundsatzrede zum Neujahrsempfang der Industrie- und Handelskammer Stade für den Elbe-Weser-Raum hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betont, dass Europa gemeinsam die großen Herausforderungen der Gegenwart meistern kann. Sie plädierte in ihrer Rede auch für einen konstruktiven Dialog zur Zukunft der Landwirtschaft. Mit Blick auf die derzeitigen Proteste der Landwirtinnen und Landwirte sagte sie: „Viele der Anliegen unserer Landwirte verstehe ich. Sie haben gute Argumente auf ihrer Seite. Sie sorgen für unsere Lebensmittelsicherheit. Sie wollen dafür ein angemessenes Einkommen. Und sie brauchen für ihre Arbeit Planungssicherheit. Deshalb ist auch rund ein Drittel unseres gesamten Europäischen Budgets für Zahlungen an die Landwirtschaft reserviert.“
Der Veränderungsdruck für die Landwirte sei groß, so wie für viele andere Menschen auch, erklärte die Kommissionspräsidentin. „Stichwort Klimaschutz, Stichwort Digitalisierung. Und das sind große Herausforderungen und die müssen wir gemeinsam bewältigen. Deswegen starten wir als Europäische Kommission gemeinsam mit der Landwirtschaft und der gesamten Lieferkette einen strategischen Dialog. Da geht es um die großen Fragen. Wie können wir den Landwirten auch künftig für ihre wertvolle Arbeit ein gutes Auskommen sichern? Wie können wir mit der Branche die Umweltbilanz verbessern? Wie kann die Landwirtschaft von den Technologiesprüngen profitieren? Zum Beispiel Satellitentechnik, autonom arbeitende Fahrzeuge, Drohnen-Technik für die Bodenanalyse. Was können wir dazu beitragen, dass landwirtschaftliche Produkte „made in Europe“ global wettbewerbsfähig bleiben?
Ich wünsche mir, dass wir diese wichtigen und berechtigten Fragen der Landwirte gemeinsam klären. Denn der konstruktive Dialog, das ist der Kern der Demokratie. Miteinander sprechen. Wir sind uns ja einig: Übergriffe, Hass und Gewalt haben in unserer Demokratie keinen Platz.“
Europäische Union als Bündnis gegen Willkür und Gewalt
Wie die Hanse zu ihrer Zeit sei die Europäische Union heute ein Bündnis gegen Willkür und rechtlose Gewalt, sagte von der Leyen in der Hansestadt Stade. „Es ist dieselbe Rolle, die heute unseren wichtigsten Bündnissen zukommt. Das ist vor allem unsere Europäische Union. Und das ist die NATO, unsere Verteidigungsallianz. Es ist kein Wunder, dass beide Bündnisse Zulauf haben. Finnland ist Mitglied der NATO geworden, Schweden ist auf dem Weg. Die sechs Westbalkan Staaten und die Republik Moldau wollen in die Europäische Union. Die Menschen in der Ukraine sind bereit, ihr Leben zu geben, damit die Ukraine den Weg in die Europäische Union gehen kann. Das beweist doch, wenn die Menschen frei entscheiden können, wählen sie die Demokratie, den Rechtsstaat und die Freiheit.
Genau das ist es, was die Autokraten bekämpfen. Wir sehen die Bilder. Der Drohnenhagel, der von Russland aus auf die Ukraine niedergeht. Die tapferen ukrainischen Soldaten, die ihr Land und sein Selbstbestimmungsrecht verteidigen. Es sind aber auch die Bilder archaischen Hasses und unvorstellbarer Gewalt gegen jüdisches Leben in Israel. Der Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober war der schlimmste Massenmord an Juden seit der Shoa. Israel hat das Recht, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um sicherzustellen, dass der 7. Oktober nie wieder passiert. Und dass die Geiseln freikommen. Und gleichzeitig muss Israel alles in seiner Macht Stehende tun, um Zivilisten zu schützen. Denn auch die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza ist Opfer des zynischen Kalküls der Hamas.“
Gegen antisemitische Hetze
Der Hamas gehe es darum, Hass gegen Juden weltweit zu schüren, erklärte von der Leyen. „Wir sehen die Auswirkungen. Antisemitische Hetze gedeiht nicht nur im Internet, sondern auch ganz offen auf Europas Straßen. Wir sehen Drohungen gegen jüdische Einrichtungen, gegen Menschen jüdischen Glaubens. Unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger wünschen sich jetzt nur eines von uns: Solidarität und klare Worte. Und ich finde, das ist das Mindeste, was wir für sie tun können. Wir müssen standfest sein. Unser Bekenntnis zum Schutz jüdischen Lebens gilt. ‚Nie wieder‘ zählt jetzt! Gewalt gegen Juden und Antisemitismus haben in Europa keinen Platz.“
2024 entscheidendes Jahr: Demokratie muss sich behaupten
Das Jahr 2024 werde in vielerlei Hinsicht ein entscheidendes Jahr, betonte die Kommissionspräsidentin. „Die Demokratie muss sich behaupten. Nicht nur in Europa wird gewählt, auch in den USA, in Indien, der größten Demokratie der Welt, und in etlichen anderen Ländern. Zwei Tage nach Weihnachten sind zwei große Europäer von uns gegangen: Wolfgang Schäuble und Jacques Delors. Beide kannten und schätzten sich. Für sie war Europa eine Lehre aus der Geschichte und die Antwort auf die großen Herausforderungen, die vor uns liegen.“
Auch heute stehe Europa vor großen Herausforderungen. „Heute tobt wieder Krieg an unseren Grenzen, wir haben wachsende geopolitische Spannungen, und wir durchleben die notwendige Umstellung auf eine saubere Kreislaufwirtschaft und die rasante globale Digitalisierung. Das Tempo des Wandels ist atemberaubend. Wir spüren alle, wie das die Menschen fordert. Keiner kann das allein bewältigen. Aber zusammen können wir wieder stärker und größer aus dieser Zeit kommen. 450 Millionen Europäerinnen und Europäer, wir zusammen können Berge versetzen.“
Europa habe gemeinsam die Pandemie durchgestanden und nicht nur für Europa Impfstoffe produziert, sondern auch für andere in der Welt. Die EU habe bei Putins Überfall auf die Ukraine zusammengehalten. „Das Ergebnis: Wir haben uns von russischem Öl, Kohle und Pipelinegas unabhängig gemacht. Wir haben im letzten Jahr zum ersten Mal mehr Elektrizität aus Wind und Sonne produziert als aus Gas“, sagte von der Leyen.
Europa muss im globalen Wettbewerb bestehen
Der globale Trend gehe weg von schmutzigen Technologien hin zu sauberen Verfahren und Produkten. „Die USA investieren kräftig und gezielt über den Inflation Reduction Act in saubere Technologien. China subventioniert massiv Elektroautos. Die Golfstaaten konzentrieren sich auf grünen Wasserstoff, weil sie auch bei den Energien der Zukunft Marktführer bleiben wollen. Europa führt bei Patenten für Grünen Wasserstoff. Europa führt bei der Offshore-Windkraft oder auch bei intelligenten Stromnetzen, die die ganze Welt für die Umstellung auf saubere Energie braucht. Europa hat sich in diesem globalen Rennen einen Startvorteil erarbeitet. Und ich will, dass wir Nummer 1 bleiben“, betonte von der Leyen.
Stade und der Elbe-Weser Raum seien auf dem besten Weg, die Region zum Powerhouse für erneuerbare Energien zu entwickeln. „Mit mehr als 1200 installierten Windrädern. Mehr als 700 Biomasseanlagen. Mehr als 140 Partner in einem beispielhaften Wasserstoffnetzwerk. Mit Projekten wie dem unterirdischen Wasserstoffspeicher hier in Stade, Wasserstoff betriebene Züge bis zur Arbeit von Airbus an Flugzeugen mit Wasserstoffantrieb. Und natürlich das neue LNG-Terminal, das in Rekordzeit entsteht, hier in Stade. Hier entsteht eine Modellregion für die Wasserstoffwirtschaft der Zukunft.“
Künstliche Intelligenz und der Umgang mit Daten
Die Kommissionspräsidentin sprach in Stade zudem über das riesige Potential in den Bereichen künstliche Intelligenz und Umgang mit Daten. „Als ich 2019 mein Mandat antrat, gab es unter den fünf besten Supercomputern der Welt kein einziges europäisches Modell. Wir haben daraufhin beschlossen, 7 Milliarden Euro zusätzlich zu investieren. Heute stehen 3 der Top 5 Rechner der Welt in Europa. Lumi in Finnland, Leonardo in Italien und seit neuestem Jupiter in Deutschland. Wir stellen jetzt unseren europäischen Start-ups genau diese Rechenpower zur Verfügung. Damit sie ihre KI-Ideen zur Marktreife bringen können. Wir öffnen den Markt beim Cloud Computing. Wir haben erfolgreich Anreize gesetzt, um die Halbleiter-Produktion zurück nach Europa zu holen. Dresden, Magdeburg, aber auch neue Projekte in Italien, Spanien und Frankreich. Wir reden über Technologien, die die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts prägen werden wie keine anderen.“
Die Zukunft der KI sei untrennbar mit der Zukunft der Demokratien verbunden. „Und KI entwickelt sich derzeit schneller als selbst von ihren Entwicklern angenommen. Die Kräfte des Marktes allein werden die Risiken nicht eindämmen. Freiwillige Vereinbarungen sind gut, um schnell voranzukommen, aber letztlich brauchen wir verbindliche Regeln. Nicht chinesische Regeln, und auch keine Regeln, die den Unternehmensinteressen der Tech-Konzerne dienen. Sondern Regeln, die unseren europäischen Wertvorstellungen nahekommen. Wo der Mensch im Mittelpunkt steht. Deswegen hat die EU das erste umfassende Gesetz über künstliche Intelligenz vorgelegt. Die Idee dahinter ist, unseren Unternehmen bei der KI so viel Freiheit wie möglich zu lassen, damit sie in Europa forschen und wachsen können. Aber es braucht eben auch Leitplanken. Denn auch im Digitalen Zeitalter sollen die Prinzipien unserer sozialen Marktwirtschaft gelten. Die KI muss den Menschen dienen und nicht umgekehrt.“
Neues Migrations- und Asylpaket ein Meilenstein
Nach zehnjährigem Ringen seien die Beschlüsse zu einem neuen europäisches Migrations- und Asylpaket vom Dezember ein Durchbruch, sagte von der Leyen. „Der Pakt stärkt unsere europäischen Außengrenzen. Er ermöglicht schnellere Verfahren noch an der Grenze. Screening – Identität, Sicherheit, Gesundheit. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit – war es aber bisher nicht. Rückführungen sind schneller möglich. Wir sorgen für eine bessere Balance der Lasten und Verantwortung zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Für klarere Zuständigkeiten und besseren Datenaustausch. Das sind nur einige Punkte. Der Pakt ist enorm wichtig innerhalb Europas – aber das ist nicht alles. Wir arbeiten auch intensiv mit den Herkunfts- und Transitländern. Damit das sehr klar ist: Wir haben unsere internationalen Verpflichtungen in der Vergangenheit eingehalten Wir tun das heute. Und wir werden das auch in Zukunft tun. Aber wir in Europa sind diejenigen, die darüber entscheiden, wer zu uns kommt und unter welchen Umständen. Und nicht die Schlepper und Schleuser! Das ist organisierte Kriminalität global. Die müssen wir mit allen Mitteln bekämpfen.“
Die Kommissionspräsidentin lenkte den Blick neben der unhaltbaren Zunahme irregulärer Migration aber auch auf die legale Migration nach Europa: „2022 wurden rund 3,5 Millionen Aufenthaltsbewilligungen erteilt. Das lief in der Regel völlig geräuschlos. Diese Menschen brauchen wir, sogar mehr davon. In jeder Umfrage unter Unternehmen zur Wettbewerbsfähigkeit steht ein Faktor bei den Engpässen ganz oben. Das ist der Mangel an geeigneten Arbeitskräften. Wir tun viel, um die heimischen Potenziale zu aktivieren.“
Europa habe ein Interesse an legaler Migration, betonte von der Leyen. „Wir brauchen ebenso die Talente aus aller Welt, die ja auch in den USA, in Kanada und anderswo erfolgreich ihre Fähigkeiten einbringen. Das geht nur, wenn wir uns auf bessere legale und sichere Wege für Menschen konzentrieren. Europa fördert etwa die Ausbildung junger Menschen in Tunesien. Wir helfen, dass diese Länder gezielt in die Kompetenzen investieren können, die in der EU gebraucht werden. Wir haben die erste EU-weite Plattform aufgebaut, damit Arbeitgeber Talente außerhalb der EU leichter finden und kontaktieren können. Das Signal ist: Wer ein Diplom in der Tasche hat, soll legal und sicher einen Arbeitgeber in Europa finden können. Und er oder sie muss nicht sein Erspartes oder gar das Leben kriminellen Schleppern und Schleusern anvertrauen. Ich bin überzeugt, je besser wir bei der legalen Migration sind, desto erfolgreicher werden wir im Kampf gegen Schleuser und Schlepper sein, weil wir ihr Lügengebäude zerstören.“
Gegen Demagogen und Extremisten
Ein geeintes Europa sei die Antwort auf die großen Herausforderungen der Gegenwart, unterstrich Präsidentin von der Leyen: „Ich höre sie ja auch, die Demagogen und Extremisten, die lauthals das Ende Europas fordern. Was für eine Einfalt. Ja, die Herausforderungen sind groß. Aber wir haben den Mut und die Kraft von 450 Millionen Europäerinnen und Europäern, auch große Antworten zu bieten.
Europa ist auch nach 70 Jahren immer noch die Verheißung von Frieden, Freiheit und Wohlstand. Was die Ukrainerinnen und Ukrainer auch an den dunkelsten Tagen antreibt, ist die Hoffnung, dass die nächste Generation ihrer Kinder in einem Land aufwächst, das Mitglied der Europäischen Union ist. Dafür kämpfen sie seit 2014, seit Menschen auf dem Maidan-Platz erschossen wurden, nur weil sie die europäischen Flaggen schwenkten.“
Es gebe Menschen, die schimpfen über Europa und beschwören ein Gestern, dass es so nie gab. „Sicher, unser Europa ist nicht perfekt. Wenn 27 Staaten und 450 Millionen Menschen zusammenwirken, gibt es immer Dinge, die nicht funktionieren. Aber das darf doch nicht den Blick darauf verstellen, was unser Europa leistet. Unsere EU ist eine der wohlhabendsten und sozial fortschrittlichsten Regionen der Welt.
Niemand hat mehr Handelsabkommen mit anderen Wirtschaftsregionen. Wir sind global die erste Adresse für ausländische Direktinvestitionen. Wir haben mit Horizon Europe das größte Forschungsnetzwerk der Welt. Europa ist Heimat unzähliger agiler Mittelständler, die aus Innovationen Exportschlager machen. Wir genießen in Europa einen weltweit beneideten Standard an sozialer Sicherheit und Gesundheitsschutz. Das realisieren wir, wenn wir in die Ferne reisen. Aber das sehen auch die anderen, wenn sie auf Europa schauen.
Geschäfte und Karriere machen, kann man überall. Aber wo wollen Menschen sich niederlassen und ihre Kinder großziehen? Da, wo die Straßen sicher sind. Wo sie Perspektiven haben, wo alle Zugang haben zu guter Bildung und Kultur. Wo dauerhafter Frieden herrscht. Wo sie sich frei bewegen können, studieren, arbeiten, über Grenzen hinweg, die es nicht mehr gibt. Wo sie sich etwas aufbauen können, das Ihres bleibt. Wo das Recht gewinnt und nicht staatliche Willkür. Für das alles steht Europa. Deswegen ist mir nicht bang, wenn ich an Europas Zukunft denke. Deswegen klingt auch das Trommeln der Pessimisten und Populisten so hohl und trist. Vor allem, wenn sie das Ende unserer einzigartigen Gemeinschaft fordern. Das Gegenteil ist wahr.
Konrad Adenauer sagte vor 70 Jahren: ‚Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für uns alle.‘ Seine Worte sind nicht nur aktuell. Sie sind eine Verpflichtung für uns alle, weiter an diesem großartigen Europa zu arbeiten.“
Weitere Informationen
Rede der Präsidentin: Neujahrsempfang der IHK Stade für den Elbe-Weser-Raum (europa.eu)
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Einzelheiten
- Datum der Veröffentlichung
- 9. Januar 2024
- Autor
- Vertretung in Deutschland