Lutz Güllner stellte bei der Veranstaltung auf Einladung der Vertretung der Europäischen Kommission und des Verbindungsbüros des Europäischen Parlaments in Deutschland den EU-Aktionsplan gegen Desinformation vor, auf den sich die EU-Organe und die Mitgliedstaaten im vergangenen Dezember verständigt haben. EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten haben inzwischen ein gemeinsames Frühwarnsystem eingerichtet, an dem auch die Bundesregierung über das Auswärtige Amt beteiligt ist. Online-Plattformen wie Google, Facebook und Twitter haben sich in einem Verhaltenskodex verpflichtet, Scheinkonten zu schließen und Wahlwerbung transparent zu machen. Im Europäischen Auswärtigen Dienst werden die Task Forces für strategische Kommunikation gestärkt. Europaweit vernetzen sich unabhängige Faktenprüfer wie Correctiv, um Desinformationskampagnen aufzudecken. Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments treiben die EU-Länder in einer Entschließung an, beherzter gegen hybride Bedrohungen vorzugehen.
„Es geht darum, Inhalte der Desinformation, die Akteure und das Verhalten der Akteure zu erkennen“, erläuterte Güllner. „Unser Ansatz als Kommission lautet: Wir wollen nicht von Brüssel aus vorschreiben, wie vorzugehen ist, sondern wir wollen die Mitgliedstaaten miteinander vernetzen.“ Andreas Kindl, Leiter Strategische Kommunikation im Auswärtigen Amt, berichtete über erste Erfahrungen mit dem neuen Frühwarnsystem unter den EU-Ländern. „Das System ist relativ neu. Wir haben einen regen Austausch und uns auch analog in Brüssel getroffen.“ Bisher habe es noch keinen akuten Alarmfall gegeben, aber die Strukturen für eine schnelle gemeinsame Reaktion seien nun da.
Der Datenskandal um das Unternehmen Cambridge Analytica und die gezielten Informationen im US-Wahlkampf 2015 sowie versuchte Einflussnahme beim Brexit-Referendum 2016 zeigen die Anfälligkeit der digitalen Informationswelt. Es gehe bei Desinformation nicht allein um Fake News, sagte Güllner und erläuterte: „Häufig wird der Kern der Wahrheit auch einfach verschoben oder verzerrt dargestellt.“ So würden bestimmte Nachrichten für bestimmte Zielgruppen aufgearbeitet und in spezielle Kanäle, etwa Chatgruppen auf WhatsApp oder Facebook-Foren eingespeist. Das Ziel der Task Forces des Auswärtigen Dienstes für strategische Kommunikation in der östlichen Nachbarschaft, in den Westbalkan-Staaten und dem arabischen Raum sei es nicht, jede einzelne Falschnachricht zu widerlegen. „Unser Ziel ist, bestimmte Muster und Narrative bloßzustellen“, sagte Güllner.
Ein Beispiel: So seien nach dem Anschlag auf den russischen Ex-Agenten Sergeij Skripal im vergangenen Jahr in Großbritannien sehr schnell die verschiedensten Versionen über das Attentat, die eingesetzte giftige Substanz und ihre mögliche Herkunft in Umlauf gewesen. „Es ging einfach darum, maximale Verwirrung zu stiften“, erklärte Güllner in diesem Fall die Strategie Russlands. Und er bekannte offen: „Wir erleben seit 2015 von allen Seiten eine massive Desinformation. Vor allem von Seiten Russlands.“
„Seit Russland 2008 die Informationshoheit über den Georgien-Krieg verloren hat, rüstet Moskau massiv auf“, erklärte die Europaabgeordnete Rebecca Harms. Die Grünen-Politikerin engagiert sich stark in Osteuropa, vor allem in der Ukraine und spürte nach der russischen Annexion „die volle Wucht der russischen Trolls“. Eine Mitarbeiterin sei zeitweise nur damit beschäftigt gewesen, Einträge aus den Trollfabriken auf ihrer Facebook-Seite zu löschen. Die Parlamentarierin unterstützte das Frühwarnsystem der EU-Institutionen und der Mitgliedstaaten, forderte aber, mehr Mittel einzusetzen: „Ich glaube, das müsste besser finanziell ausgestattet werden.“
Harms analysierte die Desinformationskampagnen der vergangenen Jahre. So sei durch Kreml-nahe Medien seit der Jahreswende 2014 im Netz zunächst gegen die ukrainische Maidan-Bewegung und später nach der russischen Annexion der Krim gegen das europäische Engagement in der Ukraine mobil gemacht worden. Es folgten ab 2015 mit der Kritik gegen die europäische Flüchtlingspolitik ein Versuch, die EU als instabil und dysfunktional zu delegitimieren. Es sei auch „kein Zufall, dass sich Breitbart-Gründer Stephen Bannon vor der Europawahl in Italien niedergelassen hat und der Kreml die antieuropäische Lega unterstützt“, sagte Harms. Auch die Glaubwürdigkeit der klassischen Medien werde gezielt angegriffen. Hier müsse der unabhänige Qualitätsjournalismus und die Zivilgesellschaft wehrhaft sein. Auch die Medienkompetenz der Menschen sei gefragt.
David Schraven ist Gründer und Publisher des spendenfinanzierten Recherchezentrums „Correctiv“. Mit einem Team von Journalisten ging Schraven im Landtagswahlkampf in NRW und im Bundestagswahlkampf 2017 gegen Falschnachrichten im Internet vor und ist auch im Vorfeld der Europawahlen vom 23. bis 26. Mai im europäischen Verbund factcheckeu.info aktiv. Für die Europawahlen im Mai hat Schraven technisch aufgerüstet. Die überprüften Falschnachrichten werden nun in eine Datenbank eingespeist. Ein Computerprogramm versieht sie mit einem „Tag“, einer Art digitalem Warnschild. Erscheinen die von Correctiv überprüften Falschnachrichten in der Google-Suche oder bei Facebook, erscheint auch gleich ein Warnhinweis und ein Verweis auf den Faktencheck. Schravens Botschaft: „Wir sind nicht machtlos.“
Weiterführende Quellen:
VIDEO: Mitschnitt der Diskussion zu Desinformation auf dem Youtube-Kanal der Kommissionsvertretung
Faktenblatt: EU-Aktionsplan gegen Desinformation
Europäischer Faktencheck-Verbund
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Einzelheiten
- Datum der Veröffentlichung
- 12. April 2019
- Autor
- Vertretung in Deutschland