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Vertretung in Deutschland
Presseartikel9. September 2015Vertretung in DeutschlandLesedauer: 9 Min

Juncker: Wir brauchen mehr Europa, mehr Union in unserer Europäischen Union

In einer leidenschaftlichen Rede zur Lage der Europäischen Union hat Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Europäer zu Ehrlichkeit, Einigkeit und Solidarität aufgerufen.

Jean-Claude Juncker

"Unsere Europäische Union ist in keinem guten Zustand. Es fehlt an Europa in dieser Union. Und es fehlt an Union in dieser Union. Das müssen wir ändern", sagte Juncker am Mittwochmorgen im Europäischen Parlament in Straßburg. In der Flüchtlingspolitik brauche es einen großen Kraftakt europäischer Solidarität. "Vor dem Sommer haben wir von den Mitgliedstaaten nicht die Unterstützung erhalten, auf die ich gehofft hatte. Aber ich sehe, dass sich die Stimmung wandelt", sagte Juncker. "Dafür ist es auch höchste Zeit." Juncker legte umfassende Vorschläge zur gemeinsamen Bewältigung der Flüchtlingskrise in Europa vor. In der Wirtschaftspolitik beschrieb er einen Neustart für Griechenland und den Euro-Raum als Ganzes. Juncker zeigte sich entschlossen, einen fairen Deal für Großbritannien zu finden und die EU vereint zu halten an der Seite der Ukraine und als Vorreiter im Kampf gegen den Klimawandel.

"Es ist an der Zeit, offen und ehrlich über die großen Fragen zu sprechen, denen sich die Europäische Union stellen muss", sagte Juncker vor den Abgeordneten. Seit Beginn des Jahres haben sich fast 500 000 Menschen nach Europa durchgeschlagen. "Wir Europäer sollten uns daran erinnern, dass Europa ein Kontinent ist, auf dem im Laufe der Geschichte fast jeder einmal ein Flüchtling war. Unsere gemeinsame Geschichte ist geprägt von Millionen von Europäern, die vor religiöser und politischer Verfolgung, vor Krieg, vor Diktatur und vor Unterdrückung fliehen mussten", so der Kommissionspräsident. "Haben wir etwa wirklich vergessen, dass nach den verheerenden Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs 60 Millionen Menschen in Europa auf der Flucht waren? Wir Europäer sollten wissen und niemals vergessen, warum es so wichtig ist, Zuflucht zu bieten und für das Grundrecht auf Asyl einzustehen."

Die Flüchtlingskrise: Das Gebot als Union zu handeln

Juncker forderte Mitgliedstaaten auf, der Not-Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen aus Griechenland, Italien und Ungarn zuzustimmen. "Wenn es um Flüchtlinge geht, gibt es keine Religion, keinen Glauben, keine Philosophie", sagte Juncker. "Unterschätzen Sie nicht die Dringlichkeit. Unterschätzen Sie nicht den Handlungsdruck, unter dem wir stehen. Der Winter rückt näher – denken Sie an die Familien, die in Parks und Bahnhöfen in Budapest, in Zelten in Traiskirchen oder am Meeresufer auf Kos schlafen müssen. Was wird aus ihnen in kalten Winternächten?"

Ein auf Dauer angelegter Umsiedlungsmechanismus soll künftig den am stärksten betroffenen Mitgliedstaaten helfen. Eine gemeinsame europäische Liste sicherer Herkunftsstaaten kann die Asylverfahren beschleunigen. Juncker forderte auch neue diplomatische Initiativen, um die Konflikte in Libyen, Irak und Syrien beizulegen. "Unsere europäische Außenpolitik muss entschlossener werden. Wir können es uns nicht länger leisten, Kriege und Instabilität in unserer Nachbarschaft zu ignorieren oder uneins darauf zu reagieren", sagte der Kommissionspräsident.

Um an den Ursachen für die Migration aus Afrika anzusetzen, schlug Juncker einen mit 1,8 Mrd. Euro ausgestatteten Treuhandfonds vor. Eine wirklich geeinte europäische Migrationspolitik bedeute auch, dass es mehr legale Migrationswege geben müsse. Juncker kündigte für Anfang 2016 ein umfassendes Gesetzespaket zur legalen Zuwanderung an.

Ein Neustart für Griechenland und den Euro-Raum

Juncker blickte nüchtern auf den Verlauf der Griechenland-Krise im laufenden Jahr zurück. "Seit Jahresbeginn haben die Gespräche über Griechenland unsere Geduld strapaziert. Es wurde viel Zeit verschwendet und Vertrauen verspielt. Es wurden Brücken eingerissen. Dinge wurden gesagt, die man nicht leicht wieder rückgängig machen kann", sagte Juncker. "Demokratien des Euro-Raums wurden gegeneinander ausgespielt. Die im vergangenen Jahr in Griechenland zu beobachtende wirtschaftliche Erholung und die dort geschaffenen Arbeitsplätze haben sich während dieser Monate in Luft aufgelöst. Zusammen blickten wir in den Abgrund. und wieder einmal gelang es uns erst in diesem letzten Moment, uns auf das wirklich Wichtige zu besinnen und unserer Verantwortung gerecht zu werden."

Wichtig sei für ihn, dass am Ende ein Kompromiss gefunden wurde, dem alle 19 Euro Mitgliedstaaten, inklusive Griechenland, zustimmen konnten. "Jetzt da das Programm steht, möchte ich, dass es ein Neustart für Griechenland und den Euro-Raum als Ganzes wird."

Die Krise habe im Euro-Raum und in der EU insgesamt zu sehr großen Unterschieden geführt. Sie hat das Wachstumspotenzial beeinträchtigt, soziale Ungleichheiten verschärft und Zweifel am sozialen Fortschritt, am Nutzen des Wandels und an den Vorteilen des Zusammengehörens genährt. "Wir müssen wieder einen Prozess der Konvergenz in Gang bringen, und zwar der Konvergenz der einzelnen Mitgliedstaaten und der Gesellschaften, in dessen Mittelpunkt Produktivität, die Schaffung von Arbeitsplätzen und soziale Gerechtigkeit stehen. Unser Europa braucht mehr Union.", so Juncker.

Für die Europäische Union und vor allem für seine Kommission bedeute dies Investitionen in Arbeitsplätze und Wachstum und die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion. "Wir sind an beiden Fronten aktiv", so Juncker. "Ein gemeinschaftlicheres Einlagensicherungssystem ist dringend notwendig, und die Kommission wird noch vor Jahresende einen Gesetzesvorschlag über die ersten Schritte in diese Richtung vorlegen." Zudem brauche es eine stärkere Vertretung des Euro auf der Weltbühne. "Aus meiner Sicht wäre der Präsident der Eurogruppe der natürliche Vertreter für das Euro-Währungsgebiet in internationalen Finanzinstitutionen wie dem IWF."

Drittens brauche die Euro-Zone ein effektiveres und demokratischeres System der wirtschafts- und haushaltspolitischen Überwachung. "Ich will, dass unsere Empfehlungen für die wirtschaftspolitische Ausrichtung des Euro-Raums in Zukunft nicht mehr nur leere Worte bleiben. Ich will, dass sie wirklich die Richtung vorgeben, vor allem für den finanzpolitischen Kurs der Eurozone", sagte Juncker. Er pochte auch auf mehr Fairness in der Steuerpolitik: Unternehmen müssen dort besteuert werden, wo sie ihre Gewinne erwirtschaften. Schließlich wolle er die Arbeiten an einem fairen und wahrhaft europäischen Arbeitsmarkt vorantreiben. "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort – dies sollte unser zentraler Grundsatz sein", so Juncker.

Ein fairer Deal für Großbritannien

Vor Ende 2017 findet ein Referendum über die Frage statt, ob Großbritannien Mitglied der Europäischen Union bleibt oder nicht. "Die Entscheidung darüber liegt natürlich bei den Wählern im Vereinigten Königreich", sagte Juncker. "Wir sollten uns jedoch nichts vormachen: diese Entscheidung ist von strategischer Bedeutung für die gesamte Union."

Juncker machte klar, dass er sich gemeinsam mit der britischen Regierung für einen fairen Deal für Großbritannien einsetzen werde. "Die Briten stellen grundlegende Fragen bezüglich der EU – und verlangen entsprechende Antworten. Verhilft die EU ihren Bürgern zu Wohlstand? Ist das Handeln der EU auf diejenigen Bereiche beschränkt, in denen sie wirklich etwas bewirken kann? Ist die EU offen gegenüber dem Rest der Welt?

Auf diese Fragen hat die EU Antworten, und zwar nicht nur für das Vereinigte Königreich. Alle 28 EU-Mitgliedstaaten wollen eine moderne EU, die sich darauf konzentriert, dem Wohl all ihrer Bürger zu dienen. Wir stimmen alle überein, dass sich die EU in Anbetracht der Krise und der enormen Herausforderungen, vor denen sie derzeit steht, anpassen und verändern muss", sagte Juncker. "Ich werde an einem fairen Deal für Großbritannien arbeiten. Ich tue das aus einem einzigen Grund: ich bin überzeugt, dass es für die EU besser ist, wenn Großbritannien Mitglied und für Großbritannien auch. In zentralen Bereichen können wir gemeinsam viel mehr erreichen als jeder für sich allein. Dies gilt insbesondere für die enormen außenpolitischen Herausforderungen, vor denen Europa derzeit steht."

Vereint an der Seite der Ukraine

Wenn Europa zu einer friedlicheren Welt beitragen wolle, brauche es mehr „Union“ in der Außenpolitik. "Das ist am dringlichsten bei der Ukraine", sagte Juncker. Der Ukraine dabei zu helfen, ihre Existenz zu sichern, Reformen durchzuführen und wirtschaftlich voranzukommen, ist eine europäische Herausforderung. Der ukrainische Traum, der Traum des Majdan, ist letztlich ein europäischer: ein Leben in einem modernen Land, in einer stabilen Wirtschaft, in einem zuverlässigen und fairen politischen System.

"Wir brauchen Einheit, wenn es um die Sicherheit der osteuropäischen Mitgliedstaaten geht, vor allem der baltischen. Die Sicherheit und die Grenzen von EU-Mitgliedstaaten sind unantastbar. Ich will, dass das ganz klar in Moskau verstanden wird", sagte Juncker. "Wir brauchen mehr Einigkeit, wenn es um Sanktionen geht. Die Sanktionen der EU gegen Russland haben einen Preis für jede unserer Volkswirtschaften und sie wirken sich auf wichtige Sektoren, wie die Landwirtschaft, aus. Aber Sanktionen sind ein starkes Instrument, um Aggressionen und der Verletzung internationalen Rechts zu begegnen. Die Sanktionen müssen beibehalten werden, bis die Abkommen von Minsk uneingeschränkt erfüllt werden. Wir müssen uns in Geduld üben und unsere Einheit wahren. Gleichzeitig müssen wir aber auch weiter nach Lösungen suchen."

Vereint als Vorreiter im Kampf gegen den Klimawandel

Ein Beispiel, wo Europa bereits eine führende Position übernommen hat, seien die Bemühungen zum Klimawandel. "Klimaflüchtlinge werden eine neue Herausforderung sein, wenn wir nicht rasch handeln", sagte Juncker 90 Tage vor der Weltklimakonferenz in Paris. "Die EU ist auf dem richtigen Weg und hat im März eine klare Zusage gemacht: ein verbindliches Ziel für die gesamte EU-Wirtschaft, die Emissionen bis 2030 um mindestens 40 Prozent gegenüber dem Niveau von 1990 zu senken. Dies ist bis heute der ehrgeizigste Beitrag. Andere folgen, wenn auch zum Teil nur zögerlich", sagte Juncker. Lassen Sie es mich unseren internationalen Partnern ganz deutlich sagen: Die EU wird nicht einfach jede beliebige Vereinbarung unterzeichnen. Meine Priorität, die Priorität Europas, ist ein ehrgeiziges, solides und verbindliches Weltklima-Abkommen."

"Ob wir nun über die Flüchtlingskrise, die Wirtschaft oder die Außenpolitik sprechen, wir können nur als Union Erfolg haben", sagte Juncker abschließend. "Wer steckt hinter der Union, die 507 Millionen Bürger umfasst? Die Union ist nicht nur Brüssel oder Straßburg. Es sind die europäischen Institutionen, die Mitgliedstaaten, die nationalen Regierungen und die nationalen Parlamente, die die Union ausmachen. Wenn nur einer von uns seinen Beitrag nicht leistet, stolpern wir alle."

"Ich habe mein Leben lang an Europa geglaubt. Ich habe meine Gründe dafür. Viele dieser Gründe sind, wie ich weiß, der heutigen Generation nicht mehr zu erklären, was in gewisser Hinsicht auch ein Glück ist. Aber wenn spätere Generationen in den Geschichtsbüchern Europas über die jetzige Zeit lesen, sollen sie sehen, dass wir zusammengehalten, Mitgefühl bewiesen und unsere Häuser für die geöffnet haben, die unseren Schutz brauchten. Dass wir unsere Kräfte gebündelt haben, um die globalen Herausforderungen anzugehen, unsere Werte zu schützen und Konflikte zu lösen. Dass wir sichergestellt haben, dass die Steuerzahler nie wieder für die Habgier von Finanzspekulanten zahlen müssen. Dass wir Hand in Hand Wachstum und Wohlstand für unsere Volkswirtschaften, für unsere Unternehmen und vor allem für unsere Kinder gesichert haben. Sie sollen lesen, dass wir eine Union geschaffen haben, die stärker war denn je zuvor."

Den gesamten Wortlaut der Rede können Sie hier nachlesen.

Pressekontakt: reinhard [dot] hoenighausatec [dot] europa [dot] eu (Reinhard Hönighaus), Tel.: +49 (30) 2280-2300

Einzelheiten

Datum der Veröffentlichung
9. September 2015
Autor
Vertretung in Deutschland