Die Europäische Kommission leitet regelmäßig rechtliche Schritte gegen Mitgliedstaaten ein, die ihren Verpflichtungen aus dem EU-Recht nicht nachkommen. Gegen Deutschland wurden in der aktuellen Verfahrensrunde drei Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet oder weitergeführt. Dabei geht es zum einen um die bayerischen Familienleistungen für in Bayern wohnhafte Personen mit kleinen Kindern. Deren Ausgestaltung verstößt aus Sicht der Kommission gegen die EU-Vorschriften für die Koordinierung der sozialen Sicherheit und die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Ein zweites Verfahren betrifft die Durchsetzung der Entsenderichtlinie in Deutschland, ein drittes Verfahren die Sicherheit und Interoperabilität im Eisenbahnverkehr.
Beschäftigung und soziale Rechte
Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und die Arbeitnehmerfreizügigkeit
Bayern verstößt aus Sicht der Kommission gegen die EU-Vorschriften über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Das neu eingeführte System von Familienleistungen für in Bayern wohnhafte Personen mit kleinen Kindern bis 3 Jahren diskriminiert Unionsbürgerinnen und -bürger. Die Kommission hat daher beschlossen, eine mit Gründen versehene Stellungnahme an Deutschland zu richten (INFR(2021)4039), weil das Land gegen die EU-Vorschriften über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Verordnung (EG) Nr. 883/2004) und die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Verordnung (EU) Nr. 492/2011 und Artikel 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)) verstößt.
Die Kommission hatte im November 2021 ein Aufforderungsschreiben an Deutschland übermittelt. Die Bundesregierung hatte im März 2022 geantwortet. Da diese Antwort die Bedenken der Kommission jedoch nicht ausräumen konnte, hat die Kommission beschlossen, eine mit Gründen versehene Stellungnahme an das Land zu senden. Deutschland muss nun binnen zwei Monaten die erforderlichen Maßnahmen treffen. Andernfalls kann die Kommission den Gerichtshof der Europäischen Union anrufen.
Der Freistaat Bayern hat ein neues System von Familienleistungen für in Bayern wohnhafte Personen mit Kindern bis drei Jahren eingeführt. Nach dem neuen System erhalten EU-Staatsangehörige, deren Kinder in einem der 15 Mitgliedstaaten leben, in dem die Lebenshaltungskosten niedriger sind als in Bayern, niedrigere Beträge. Die Kommission hat Bedenken geäußert, dass diese Regelung gegen EU-Recht verstößt und eine ungerechtfertigte mittelbare Diskriminierung von Wanderarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmern aufgrund der Staatsangehörigkeit darstellt. Außerdem ist sie der Ansicht, dass die Regelung gegen die EU-Vorschriften zur Arbeitnehmerfreizügigkeit und zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit verstößt. EU-Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, deren Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat haben, sollten Anspruch auf die gleichen Familienleistungen haben wie andere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Bayern.
Im Juni 2022 hatte der Gerichtshof der Europäischen Union in der Rechtssache C-328/20 entschieden, dass eine ähnliche, von Österreich eingeführte Regelung für Familienleistungen nicht im Einklang mit dem EU-Recht stand. Das Urteil des Gerichtshofs bestätigte die Auffassung der Kommission.
Entsendung von Arbeitnehmern
Die Kommission forderte 17 Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, zur Einhaltung der EU-Richtlinie zur Durchsetzung der Entsenderichtlinie auf. Deutschland erhielt eine mit Gründen versehene Stellungnahme (INFR(2021)2056). Die Richtlinie zur Durchsetzung der Entsenderichtlinie (2014/67/EU) zielt darauf ab, die praktische Anwendung der Vorschriften über die Entsendung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu stärken, indem Fragen im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Betrug und Umgehung von Vorschriften, dem Zugang zu Informationen und der Verwaltungszusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten angesprochen werden.
Insbesondere wird in dieser Richtlinie Folgendes festgelegt:
- die Verwaltungsanforderungen und Kontrollmaßnahmen, die die Mitgliedstaaten zur Überwachung der Einhaltung der Vorschriften über die Entsendung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vorschreiben können,
- die Rechte entsandter Arbeitnehmer/innen und der Schutz vor Benachteiligung durch ihren Arbeitgeber, wenn sie rechtliche oder administrative Schritte gegen ihn einleiten,
- der Schutz der Rechte entsandter Arbeitnehmer/innen bei Unterauftragsvergabe,
- die Gewährleistung einer wirksamen Anwendung und Durchsetzung von Verwaltungssanktionen und Geldbußen in allen Mitgliedstaaten und
- die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen festzulegen.
Die Kommission hatte im Juli 2021 Aufforderungsschreiben an 24 Mitgliedstaaten übermittelt. 17 Mitgliedstaaten, die die oben genannten Bestimmungen der Richtlinie immer noch nicht oder nur teilweise korrekt umgesetzt haben, erhalten jetzt mit Gründen versehene Stellungnahmen. Sie haben nun zwei Monate Zeit, um die erforderlichen Maßnahmen zu treffen; andernfalls kann die Kommission die Angelegenheit an den Gerichtshof der Europäischen Union verweisen.
Pressekontakt für den Bereich Beschäftigung und soziale Rechte: gabriele [dot] imhoffec [dot] europa [dot] eu (Gabriele Imhoff), Tel.: +49 (30) 2280-2820
Mobilität und Verkehr
Interoperabilität im Eisenbahnverkehr
Sowohl Deutschland wie auch Polen haben die EU-Vorschriften für Sicherheit und Interoperabilität im Eisenbahnverkehr nicht korrekt umgesetzt. Deshalb eröffnet die EU-Kommission mit einem Aufforderungsschreiben ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland (INFR(2022)2100 und INFR(2022)2101), weil es nicht alle Anforderungen auf alle seine regionalen Netze angewandt hat.
Die Richtlinien, gegen die Deutschland und Polen verstoßen haben, zielen darauf ab, den Betrieb von Eisenbahndiensten in ganz Europa für die Unternehmen leichter und billiger zu machen. Mit den neuen Regeln werden insbesondere schnellere und kostengünstigere Möglichkeiten geschaffen, um Schienenfahrzeuge für den Einsatz in mehreren Mitgliedstaaten zuzulassen. Außerdem werden unnötige nationale technische und betriebliche Hindernisse beseitigt, um den grenzüberschreitenden Schienenverkehr zu erleichtern.
Diese Richtlinien sind Teil des Vierten Eisenbahnpakets, einer Reihe von sechs europäischen Gesetzen, die darauf abzielen, den Binnenmarkt für Eisenbahndienste (Einheitlicher Europäischer Eisenbahnraum) zu vollenden, den Eisenbahnsektor neu zu beleben und ihn gegenüber anderen Verkehrsträgern wettbewerbsfähiger zu machen. Die Mitgliedstaaten hatten bis Juni 2019 Zeit, die neuen Vorschriften in nationales Recht umzusetzen, eine Frist, die sie um ein Jahr verlängern konnten.
Deutschland hat nun zwei Monate Zeit, um auf das Aufforderungsschreiben zu antworten. Erhält es keine zufriedenstellende Antwort, kann die Kommission beschließen, mit Gründen versehene Stellungnahmen abzugeben. Polen hat ebenfalls zwei Monate Zeit, um zu antworten und die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Andernfalls kann die Kommission die Fälle an den Europäischen Gerichtshof verweisen.
Pressekontakt für den Bereich Mobilität und Verkehr: nikola [dot] johnec [dot] europa [dot] eu (Nikola John), Tel.: +49 (30) 2280 2410.
Hintergrund
Mit den Vertragsverletzungsverfahren, die verschiedene Sektoren und EU-Politikfelder betreffen, soll eine korrekte und vollständige Anwendung des EU-Rechts im Interesse der Bürgerinnen und Bürger und der Unternehmen gewährleistet werden.
Die Kommission kann ein förmliches Vertragsverletzungsverfahren einleiten, wenn ein EU-Land die Maßnahmen zur vollständigen Umsetzung einer Richtlinie nicht mitteilt oder einen mutmaßlichen Verstoß gegen das EU-Recht nicht behebt. Das Verfahren läuft in mehreren Schritten ab, die in den EU-Verträgen festgelegt sind und jeweils mit einem förmlichen Beschluss enden:
- Die Kommission übermittelt dem betreffenden Land ein Aufforderungsschreiben, in dem sie um weitere Informationen ersucht. Das Land muss innerhalb einer festgelegten Frist von in der Regel zwei Monaten ein ausführliches Antwortschreiben übermitteln.
- Gelangt die Kommission zu dem Schluss, dass das Land seinen Verpflichtungen nach dem EU-Recht nicht nachkommt, gibt sie eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab. Dabei handelt es sich um eine förmliche Aufforderung, Übereinstimmung mit dem EU-Recht herzustellen. In der Stellungnahme erläutert die Kommission, warum sie der Auffassung ist, dass das Land gegen EU-Recht verstößt. Sie fordert es außerdem auf, sie innerhalb einer festgelegten Frist von in der Regel zwei Monaten über die getroffenen Maßnahmen zu unterrichten.
- Stellt das EU-Land daraufhin immer noch keine Übereinstimmung mit dem EU-Recht her, kann die Kommission den Gerichtshof mit dem Fall befassen. Die meisten Fälle werden allerdings vorher geklärt.
Weitere Informationen:
Memo: Vertragsverletzungsverfahren im Januar: wichtigste Beschlüsse
Fragen & Antworten zu Vertragsverletzungsverfahren
Informationen zu allen gefassten Beschlüssen im Register der Beschlüsse über Vertragsverletzungsverfahren
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Einzelheiten
- Datum der Veröffentlichung
- 26. Januar 2023
- Autor
- Vertretung in Deutschland